Potenziale und Perspektiven für ländliche Räume – soziale Innovationen für den demographischen Wandel
Bereits zum dritten Mal bot die Präsenzstelle mit dem Format „Wissenschaft trifft Gesellschaft“ eine Plattform für den Austausch zwischen Forschenden mit Bürgerinnen und Bürgern zu einem gesellschaftlich relevanten Thema. Nach Fake News und Künstlicher Intelligenz ging es in der Veranstaltung am 18. September um das Thema Soziale Innovationen: Gemeint sind aus der Gesellschaft heraus entwickelte Ansätze und Lösungen, die das Leben in der Region spürbar verbessern können. Aber wie innovationsfähig ist die Region überhaupt? Welche Hemmnisse und welche Chancen gibt es? Welche Ansätze werden schon erprobt und wo kann eine Zusammenarbeit mit Hochschulen sinnvoll sein? Zu diesen und weiteren Fragen tauschten sich die ca. 60 Gäste mit den Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis aus.
Blick aus der Wissenschaft auf die Region
Den Einstiegsimpuls des Abends gab ein Forschungsteam des Instituts für Geographie und Geologie der Universität Greifswald. Unter dem Projektitel „GITpRO – Gesellschaftliche Innovationsfähigkeit und Transformationsprozesse in peripheren Regionen Ostdeutschlands“ untersuchten die Forschenden zwei ostdeutsche Regionen - darunter Oderland-Spree - soziologisch, diskursiv und netzwerkanalytisch, um Potenziale für Innovation zu erkennen. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter Ihar Buika und Johannes Müller präsentieren das Forschungsvorgehen abwechselnd und betonten, dass sich Komplexität nicht reduzieren lässt. Ihre Ergebnisse zeigen: Fast 60 Prozent der Befragten in der Region Oderland-Spree stehen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen offen gegenüber, sogar über 80% sehen in Innovation und Transformation ein großes Potential - eine der Bedingungen für deren Akzeptanz. In der Umsetzung erweist sich die Nähe zu Berlin sowohl „als Segen als auch als Fluch“, da sie die regionale Selbstsicherheit gewissermaßen beeinträchigt. Geschlossene Netzwerke („mental closure“) und Peripherisierung - ein hoher Anteil, derer die sich übersehen fühlen – nähren geringe Erwartungen an Verbesserungen und hemmen vielerorts den Aufbruch. Um Lösungen zu finden und Perspektiven zu entwickeln, wurden verschiedene der Region zu drei Zukunftswerkstätten eingeladen. Deren Vorschläge zielen auf eine gesellschaftsorientierte Innovationskultur ab, die auf Kooperation, Sichtbarkeit und lokaler Beteiligung basiert – etwa durch Innovationsmanager in Verwaltungen, Bürgerbudgets oder Orte gemeinsamer Daseinsvorsorge wie umgenutzte Bahnhöfe.Unter dem Motto „Ja, wenn statt Nein, weil“ fordern sie eine Entwicklung von klein nach groß, in der der Dorfladen genauso wichtig ist wie der Innovationshub.
Für ein gutes Leben im Alter auf dem Land
Hier knüpfte Prof. Dr. Alexandra Retkowski, der BTU Cottbus-Senftenberg mit der Alterperimentale an, die als Transferbündnis Alter, Peripherie und Experiment im Titel verknüpft und en travers der Disziplinen darauf zielt, das Leben älterer Menschen im ländlichen Raum nachhaltig zu verbessern. Retkowski betonte dabei den Fokus des Projekts auf eine neue Kultur der Beteiligung von Seniorinnen und Senioren. Als Bündnis aus Wissenschaft und regionaler Praxis wird bei der Alterperimentale ein kreatives Zusammendenken und gemeinsames produktiv Handeln über die verschiedenen beteiligten Disziplinen hinweg forciert. Dabei gab die Soziologin dem Publikum den Denkanstoß mit, dass Innovatives nicht immer eine bahnbrechende Neuerfindung sein muss. Oftmals ist es auch eine geschickte Kombination von Bekanntem und neuen Ansätzen, die eine stark erlebbare Veränderung ausmachen kann.
Mit Praxisforschung zu neuen, innovativen Lebensformen
Ein zentraler Teil des Alterperimentale-Bündnisses sind die sogenannten Praxisforschungsstellen. Die Vertreter:innen der Praxisforschungsstelle Heinersdorf im Landkreis Oder-Spree, Annegret Huth und Erik Hofedank, stellten dem Publikum die Tour des Guten Alterns vor. Hier radelte eine altersgemischte Gruppe an fünf Tagen von Eisenhüttenstadt nach Steinhöfel und besuchte verschiedene lokale Initiativen zu Themen wie Wohnen, Gesundheit, Pflege oder Mobilität. Ein Großteil der Tourengruppe war ebenfalls im Fürstenwalder Hof vor Ort.
Experimentieren, Empowern, Befähigen
Den Abschluss der Impulsvorträge machte Prof. Dr. Inga Haese der Katholischen Hochschule Berlin. Krankheitsbedingt präsentierte die Expertin für zivilgesesellschaftliches Engagement ihren Vortrag zwar nur online, für das Publikum aber über eine große Bühnenleinwand sichtbar. Ihre Transformationsforschung sieht sie in der Care-Krise, die Erosion der Daseinsvorsorge als systemimmanenten Fehler, der auch andere Naturen betrifft und sich dort als ökologische Krise äußert. Ihre Forschung zeigt, dass Sorge-Ökonomien auf dem Land – etwa gemeinschaftliches Gärtnern, Reparieren oder künstlerische Initiativen – die Mensch-Naturbeziehungen reaktivieren und über das Gestalten und Tun neue Formen von Zusammenhalt schaffen können. Entscheidend für den Erfolg der meist weiblich angeführten Projekte in einer Mischung aus Zuzügler:innen, Rückkehrer:innen und Alteingesessenen ist, so Haese, ihre lokale Einbindung. Ob der finanziellen Kürzungen votierte sie zur Stärkung für eine Werkstatt der Mutigen und eine Allianz der Gestalter:innen.
Transformation gelingt nur mit den Menschen
In der abschließenden Podiumsdiskussion vertrat das GITpRO-Team deren Projektleiter Prof. Dr. Schiller. Er spiegelte die Kritik der Zivilgesellschaft an Förderlogiken, der begrenzten Finanzierung und dem Widerspruch von Ruf nach Neuem bei sozialen Innovationen und der erwünschten Nachahmung oder Institutionalisierung zu deren Verstetigung wieder. Dabei mahnte er an, dass „wenn uns die Regionen und der Zusammenhalt wegbrechen, wir uns über technologische Wettbewerbsfähigkeit keine Gedanken mehr machen müssen“. Grit Körmer, Regionalmanagerin bei der LAG Märkische Seen, betonte in diesem Zusammenhang, wie wichtig offene Netzwerke und gegenseitige Anerkennung sind. Innovation brauche nicht immer das Neue, sondern manchmal vielmehr ein Handeln, das Gutes bewahrt, Vertrautes transformiert und Verletzlichkeit anerkennt – besonders in ostdeutschen Regionen mit gebrochener Geschichte.
So wurde der Abend zu einem Plädoyer für gemeinsames Gestalten und dem Ausbau des Sozialunternehmertum: mit der Wissenschaft als Begleiterin, Praxis als Motor, Gesellschaft als Raum des Lernens.
Oder, wie ein Teilnehmer sagte: „Über den Tellerrand nach innen schauen – und gemeinsam Zukunft bauen.“
Bei einer Mischung aus Vermittlung von Forschungserkenntnissen, best practice Beispielen und der konkreten Praxis vor Ort konnten die Besucher:innen sich weiter vernetzen und austauschen.
Eindrücke des Abends sind in der Galerie zu finden sowie in Kürze auf dem YouTube-Kanal der Präsenzstelle Fürstenwalde.
Fotos: © Alexander Rentsch